R. Nattermann: Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945)

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Title
Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945). Biografien, Diskurse und transnationale Vernetzungen


Author(s)
Nattermann, Ruth
Series
Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 140
Published
Berlin 2020: De Gruyter
Extent
VIII, 326 S.
Price
€ 99,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Francesca Paolin, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Im Zentrum des Buches von Ruth Nattermann steht die frühe jüdische Frauenbewegung in Italien, die anhand ausgewählter Protagonistinnen, Organisationen und Vereine, wie zum Beispiel der Unione Femminile Nazionale (UFN) und der Associazione delle Donne Ebree d‘Italia (ADEI), in der Zeit von 1861 bis 1945 analysiert wird. Gleichzeitig untersucht Nattermanns Arbeit deren Beziehungen zur katholischen Mehrheitsgesellschaft wie zu den katholischen Frauenorganisationen der Zeit und versteht sich als Beitrag zur geschlechtergeschichtlichen und biografischen Erforschung dieser Gesamtentwicklung. Mit organisations- und diskursgeschichtlichen Methoden gelingt es der Autorin dank einer „Langzeitperspektive“ (S. 4), die Veränderungen der Geschlechterbeziehungen und weiblichen Identitäten der jüdischen Akteurinnen gründlich zu erforschen. In den vergangenen Jahren sind bereits etliche Studien erschienen, die die Integrationsprozesse der jüdischen Minderheit in die liberale italienische Gesellschaft kritisch untersuchen. Nichtsdestotrotz bestehen immer noch „gravierende Forschungsdefizite und viele noch unerschlossene Quellen zur italienisch-jüdischen Frauen- und Geschlechtergeschichte“ (S. 5) – so Nattermann – vor allem in Bezug auf die Epoche der Emanzipation. Darüber hinaus konzentrieren sich die meisten Werke zur italienischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert ausschließlich auf die Entstehungsgeschichte und lassen die Entwicklungen vor und während des Ersten Weltkriegs weitestgehend unbeachtet.

Ruth Nattermann unternimmt es daher, diese wichtige Forschungslücke im Bereich der Geschichte der jüdischen Frauenbewegung und des italienischen Judentums zwischen 1861 und 1945 zu schließen, indem sie die Spannungen und Herausforderungen des Emanzipationsprozesses und damit verbundenen innerjüdischen Auseinandersetzungen herausarbeitet sowie die Marginalisierung, Entrechtung und Verfolgung während der faschistischen Diktatur „dezidiert aus dem Blickwinkel jüdischer Frauen untersucht“ (S. 3). Darüber hinaus wertet sie systematisch bisher völlig vernachlässigte Nachlässe, Briefwechsel, Familien- und Archivbestände aus und geht der Geschichte der jüdisch-katholischen Beziehungen in der italienischen Frauenbewegung sowie der transnationalen Familien- und Freundschaftsvernetzungen nach. Vor allem hierin liegen der hohe Wert und die Originalität des Buches von Ruth Nattermann, das mehrsprachige Quellenbestände wie Korrespondenzen auswertet und damit der weiteren Erforschung zugänglich macht.

Bei der großen Materialmenge ist es verständlich, dass eine Auswahl von Quellen getroffen werden musste. Dennoch ist es angesichts der sonst reichhaltigen historischen Kontextualisierung bedauerlich, dass die Autorin Beiträge aus der feministischen Zeitschrift La Donna (1868–1890) nur am Rande berücksichtigt. Denn gerade diese Texte spiegeln in Stil und Sprache die zeitgenössischen Debatten um die Frauenerziehung und Frauenbewegung wider und hätten wesentlich dazu beitragen können, die Modernisierungswege, die die jüdischen Akteurinnen einschlugen, wie ihre Selbstlegitimierung in der liberalen Gesellschaft Italiens, besser zu verstehen.

Gleichwohl schafft es das Buch in seinen fünf Kapiteln, die zentralen Themen und die Bereiche aufzuzeigen, in denen sich jüdische Akteurinnen über drei Generationen hinweg engagierten, und die Entwicklung der italienischen Frauenbewegung damit in Bezug zu setzen. Die inhaltliche Struktur der biographischen Untersuchungen und die dabei gesetzten Schwerpunkte sind überzeugend. Dabei werden Themen untersucht wie das Spannungsverhältnis zwischen jüdisch-partikularem und weltlichem Selbstverständnis; die sich verändernden italienisch-jüdischen Einzel- und Familienidentitäten zwischen religiösen Zugehörigkeiten und Modernisierungs- sowie Säkularisierungsprozessen; die Auseinandersetzungen der italienischen Frauenrechtlerinnen im Ersten Weltkrieg zwischen Interventionismus und Pazifismus; und nicht zuletzt die Einstellungen zum Faschismus bis zu ihrer Marginalisierung und Verfolgung. Der Akzent der Gesamtinterpretation auf den innerjüdischen Auseinandersetzungen der Frauenbewegung, ihren Positionierungen, Intentionen und auf den Spannungen in den Organisationen (insbesondere innerhalb des Comitato Nazionale Donne Italiane) sowie auf den Deutungen von Erziehung, Schulwesen, Frauenrecht und Mutterschutz in einer permanenten Spannung von Selbst- und Fremdwahrnehmung gehört mit zu den weit über die Entfaltung des Quellenmaterials hinausgehenden methodischen Stärken der Untersuchung.

Die Untersuchungen zu Protagonistinnen, wie etwa Sara Levi Nathan, die unter den jüdischen Akteurinnen der frühen italienischen Frauenbewegung dank ihres Engagements für die Frauenemanzipation als Pionierin gilt, oder Adele della Vida Levi, die mit ihrem Patriotismus und lebenslangen pädagogischen Engagement für jüdische Kinder und gesellschaftlich Benachteiligte hervorstach, oder Paolina Schiff, eine wichtige Aktivistin der Frauen- und Friedensbewegung, sind sehr kenntnisreich. Das Buch verdeutlicht damit, dass all diese jüdischen Akteurinnen einen herausragenden Beitrag zur politischen Kultur der liberalen italienischen Gesellschaft leisteten. Die facettenreichen Lebensgeschichten der jüdischen Akteurinnen erzählen aber auch vom bemerkenswerten Festhalten an jüdischen Identitäten und Traditionen, sei es mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement für Gerechtigkeit und für die Religion des Vaterlands oder aber mit ihrem in die Praxis umgesetzten pädagogischen Ideal.

In besonderer Weise erläutert Nattermann im dritten Kapitel die sich steigernden Konflikte und Distanzierungen zwischen den katholischen Frauenorganisationen und den jüdischen Akteurinnen infolge nationalistischer und antisemitischer Tendenzen. Im vierten Kapitel stellt die Autorin dann dem verbreiteten Interventionismus jüdischer Frauenrechtlerinnen die Brutalität der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und ihre damit verbundene Desillusionierung entgegen und verbindet diesen Komplex mit den hoch sensiblen Themen der Frauenrechte und Frauenemanzipation.

An den frauenemanzipatorischen Themen wie Frauenwahlrecht, Gleichberechtigung und Veränderungen innerhalb der Familien zeigt Nattermann auf, dass die jüdischen Frauenrechtlerinnen weder an eine Auto-emancipazione, eine Selbstemanzipation von ihrer Rolle als Frau im Judentum, noch an einen radikalen Bruch oder eine Entfremdung von der Familie und Tradition dachten. Vielmehr ging es ihnen um eine neue politisch-soziale egalitäre Rolle der Frau, der Mutter und der weiblichen Arbeitskraft in der italienischen liberalen Gesellschaft schlechthin. Die jüdischen Protagonistinnen setzten sich für sogenannte laizistisch geprägte pädagogische oder politische wie frauenemanzipatorische Ideale ein und teilten diese Bestrebungen – bis auf die Zeit der faschistischen Diktatur – auch mit nicht-jüdischen Frauenrechtlerinnen der Zeit. Dabei brachten jüdische Akteurinnen in ihrem Empfinden tiefer Zusammengehörigkeit sowie kollektiver Solidarität einen eminent jüdischen Charakter und ein besonderes Gruppenbewusstsein zum Ausdruck. Diese Kontinuität bewiesen sie in erster Linie mit einer spezifischen Endogamie ihrer Heiratsverbindungen sowie ihren Verwandtschaftsnetzwerken.1 Die jüdischen Akteurinnen waren Botschafterinnen einer jüdischen Kultur sowie einer ethnischen Sensibilität, die durch ihr Anpassungsvermögen und ihre multiplen Selbstdarstellungsmodi sowie ihr öffentliches Engagement für die bürgerlich-italienische Gesellschaft bestimmt waren.

Die faszinierenden Familienverhältnisse und die transnationalen Familien- und Freundschaftsnetzwerke der jüdischen Protagonistinnen zeichnet Nattermann in ihrem Buch nach und verdeutlicht, dass die jeweils komplexen Interaktionen mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Milieus, die offensichtlich mehrheitlich katholisch waren, auch zu Auseinandersetzungen führten. Die Dichotomien zwischen privatem und öffentlichem Bereich, religiös-jüdischem oder latent ethnischem Selbstverständnis lösen einander ab und kennzeichnen die Mehrfachzugehörigkeiten der Protagonistinnen.2 Nichtdestotrotz ist fraglich, ob es sich allenfalls um „säkulare jüdische Familienidentitäten“ (S. 31) oder um eine „jüdische säkulare Subkultur“ (S. 33) handelte, auf die die Autorin verweist. Die italienisch-liberale Gesellschaft jener Zeit war durch mobile und flexible Grenzen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bereichen gekennzeichnet. Ähnlich verhält es sich mit den Konturen zwischen religiöser und ethnischer „Blutgemeinschaft“, die in der italienisch-jüdischen Gesellschaft der Zeit nicht leicht zu unterscheiden waren. Der Perspektive der Autorin hinzuzufügen ist, dass „Identität“ und „Zugehörigkeit“ in ihrer polysemantischen Konnotation weder statisch noch säkular zu verstehen sind. Die öffentlichen Räume, in denen sich diese jüdischen Akteurinnen bewegten, waren konzeptionell wie semantisch immer von Transformationsprozessen und einer akkulturierten, bürgerlichen Sittlichkeit geprägt, die eine Ähnlichkeit in Bezug auf die Geschlechterrollen und Familienmodelle mit der christlichen Umgebungskultur aufwies.

Darüber hinaus erinnert Nattermanns Studie daran, dass die Geschichte des Frauenrechtsdiskurses in Italien noch viel Potenzial und genügend Raum für neue Forschungen und weitere Fragestellungen bietet. Das Buch ist daher ein erster Beitrag, um den Weitblick dieser jüdischen Vorkämpferinnen in Sachen Bildung, Erziehung, Frauenrechte bewusst zu machen und die Räume zu entdecken, die sie in der Gesellschaft hätten einnehmen können, wenn ihnen der Weg dazu nicht versperrt worden wäre.

Anmerkungen:
1 Tullia Catalan, Donne ebree a Trieste fra Ottocento e Prima Guerra Mondiale, in: Italia Judaica (2005), S. 347–371.
2 Carlotta Ferrara degli Uberti, Fare gli ebrei italiani. Autorappresentazioni di una minoranza (1861–1918), Bologna 2011, S. 53, 100.

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